irgendwo dazwischen: xaver schumachers überfall

wie stellt man sich einen idealen kabarett-abend vor? eine vielleicht au a bissel konservative frage. ist bühnenkabarett in zeiten von youtube und comedy nicht eh komplett veraltet? Wie auch immer. Wir bräuchten einen inspirierenden, schon politischen, aber nicht allzu politischen text. lustig sollte der sein und gut gespielt. bitte keine wir-sind-die-guten-katharsis, denn danach will man was zum diskutieren haben, am liebsten nicht nur mit den bekannten, mit denen man da war, sondern auch mit anderen zuschauern oder sogar zum ende des abends hin mit dem kabarettisten selbst. der aus der garderobe kommt und sich unter die leute mischt, den man ein zwei sachen fragen kann, die in den vorherigen gesprächen als fragen aufgetaucht sind, warum er das so oder so gemacht hat, und der dann schlüssig antworten kann, nicht angewurmt ob der kritik, sondern souverän daran interessiert.

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Werk und Publikum bei Humperdincks Königskinder

Die Festspiele Erl waren schon vor dem Skandal um den Festivaldirektor Gustav Kuhn kein Role Model für gesellschaftskritische Gegenkultur. Das mit Geld des Strabag-Baukonzern-Milliardärs Hans Peter Haselsteiner aufgebaute Klassikmusikfestival ist Treffpunkt und Ausdruck elitärer Dekadenz. Da das Erler Passionsspielhaus von 1956 zwar eine herausragende Klangbeschaffenheit, aber keine Heizung hat, wurde daneben noch ein weiteres Theaterhaus von einem Stararchitekten gebaut. Es erinnert passenderweise ein wenig an eine gigantische Asphaltiermaschine, verfügt aber auch über einen Konzertsaal mit Akustik auf Weltniveau, wie es immer heisst, und ist auch in der Gestaltung High End.

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Goethes tragischer Quark

Was würdest du tun, wenn ein Theatermacher ein ganzes Stück über dich schreibt – und dir einen tragischen Tod andichtet?

In meinem Lieblings-Pausenraum im Büro steht ein Büchertausch-Regal, und während der Kaffeepause les ich gern in Georg Hensels Monumental-Theaterführer Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. Ich bin grad am deutschen Sturm & Drang und an Goethes Clavigo. Dieser Clavigo ist ein Frühwerk, das erste Stück, das unter Goethes eigenem Namen erschienen ist. Die Handlung breitet sich folgendermassen aus:

Clavigo ist ein junger Journalist, der darauf hinarbeitet, am spanischen Hof aufzusteigen. Aus Leidenschaft hat er sich mit einer gewissen Marie Beaumarchais verlobt, aus Karrieregründen löst er diese Verlobung wieder auf – woraufhin ihm deren Bruder Konsequenzen androht.
Clavigo nimmt die Auflösung der Verlobung zurück. Aber sein Freund Carlos überzeugt ihn, das Eheversprechen erneut zu brechen.
An diesem nachgedoppelten Verrat stirbt die (kränkliche) Marie. An der Beerdigung ersticht ihr Bruder den treulosen Clavigo in einem Fechtkampf.

Hier nun Georg Hensel:

Der fünfundzwanzigjährige Goethe hat das Stück in einer Woche geschrieben. Als Quelle benutzte er das ›Fragmet meiner Reise nach Spanien‹ seines französischen Zeitgenossen [Pierre-Augustin Caron de] Beaumarchais […]; ein großer Teil seines Stückes ist fast wörtlich aus dem Beaumarchais‘ übersetzt, der tragische Schluss […] weicht von der Historie ab: Marie, die Schwester des Beaumarchais, verheiratet sich in Paris, der historische Don Joseph Clavigo y Faxarda hatte noch jahrzehntelang Gelegenheit, sich über seinen Bühnentod zu amüsieren.

Beaumarchais sah den ›Clavigo‹ – und damit sich selber – in Augsburg auf der Bühne und meinte dazu: »Der Deutsche hat meine Geschichte mit einem Zweikampf und einem Begräbnis überladen, Zusätze, die weniger von Talent zeugen als von Hohlköpfigkeit.«

Hinter dem gebrochenen Eheversprechen und der aus Ehrgeiz verlassenen Marie steckt Goethes Sesenheimer Friederike Brion und hinter dem weltklugen Freund Carlos höchstwahrscheinlich der Darmstädter Kriegsrat Merck, der im übrigen seinem Freund Goethe über den ›Clavigo‹ mitteilte: »Solch einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben, das können die Anderen auch!«

Georg Hensel, Spielplan, Bd. 1, Ex Libris, Zürich 1986, S. 361

Der reale Clavigo hat Marie Beaumarchais tatsächlich die Ehe versprochen, nicht nur zwei-, sondern grad dreimal. Aber weder ist sie am gebrochenen Herzen gestorben (sie hat einen anderen geheiratet), noch hat Beaumarchais den Clavigo (oder sonst jemanden) mit dem Degen getötet. Aber es muss für die drei gleichermassen lustig gewesen sein, die Bühnendarstellung ihrer Querelen zu sehen.

Rumtigern im Comedyhaus

Es ist die erste offene Bühne im Comedyhaus seit Öffnung der Theater. Kommt überhaupt jemand? Hört man das Lachen durch die Masken? Wie lustig kanns schon werden, wenn die Bar geschlossen ist?

Der Saal ist nicht grad prall gefüllt, aber doch, doch: Ein bisschen Publikum hat sich durch den Regen gekämpft. Hausbetreiber Danny Gundelfinger macht die Anmoderation. Auf der Bühne dürfe die Maske runter, wir im Zuschauersaal sollen sie aber bitte anbehalten. Und Abstände beachten. Das Comedyhaus sei schon kontrolliert worden.

Frank Richter übernimmt als Moderator und warnt vor, dass die Comedians eingerostet sind und neues Material ausprobieren. Kein Problem, war zu erwarten. Richter wärmt das Publikum auf, indem er Panflöte spielt.

Richter: „Wer hatte schon Corona?“ Ein paar wenige strecken auf.
„Wer hat gerade jetzt Corona?“ Keiner.
„Wer glaubt, dass es Corona gar nicht gibt?“ Einer streckt auf.
„Du gewinnst zwei Tickets für Marco Rima!“*

* Ungefähre Wiedergabe.

Es ist an dem Abend nicht der einzige Rima-Witz. Weitere wiederkehrende Themen: Trump und Tinder. Und: „Okay, dieser Witz funktioniert nicht, ich streich ihn.“

Acht Leute treten auf, darunter immerhin eine Frau. Dazwischen jeweils wieder Richter mit Pointen und einer Mikrofon-Desinfektions-Performance.

Irgendwann fällt mir auf, dass die Comedians viel rumtigern. Nachdems mir aufgefallen ist, kann ichs nicht ungesehen machen. Ich werde ganz nervös.

Manche Comedians kommen gut an, manche bomben. Für eine Überraschung sorgt ein Jungspund aus dem St. Gallischen, der sagt, vorher sei er bloss an der Fasnacht aufgetreten. Er macht seine Sache so gut, dass selbst Richter ganz perplex ist. Für solche Entdeckungen geht man an offene Bühnen.

Comedy-Openstage
Präsentiert von Frank Richter
Thema: Die Liebe meines Lebens
Freitag 30. April 2021

McKellen, Richard, ein Handlungsreisender: Dreimal Theater in London

Letzten November waren die Allerliebste und ich für ein paar Tage in London. Unter anderem haben wir uns drei Theaterstücke angesehen. Und zwar diese hier:

 
Ian McKellen on Stage

Das Harold Pinter Theatre im Ldononer West End: Wir sitzen weit oben, und die Zuschauerränge sind derart steil gebaut, dass mir beim Blick auf die Bühne schwindlig wird. Dort unten, weit unten, sind ein paar Teppiche ausgelegt; daneben steht eine grosse Kiste.
Das Licht geht aus, Ian McKellens Stimme donnert: Er liest eine Stelle aus Tolkiens The Lord of the Rings. Es ist jene mit Gandalf und dem Balrog: „You shall not pass!“ McKellen weiss, weshalb das Publikum gekommen ist.

Das Licht geht an, der Schauspieler tänzelt auf die Bühne. „The Lord of the Rings hab ich vorher nie gelesen“, sagt er. „Jetzt mindestens einmal pro Jahr.“
Er trägt Skinny Jeans, Jackett, einen grossen Schal. Die Soloshow feiert seinen 80sten Geburtstag, aber er gibt sich betont sportlich, wirbelt den ganzen Abend lang herum. Einmal macht er sich lustig darüber, wie er mit Anfang zwanzig im Agatha-Christie-Stück Black Coffee den Butler als Klischee eines zittrigen alten Mannes spielte.

In der erste Hälfte der Show erzählt McKellen aus seinem Leben, holt dazu immer wieder Requisiten aus der grossen Kiste (zum Beispiel Gandalfs Schwert, das ihm zum Abschluss der LotR-Dreharbeiten geschenkt wurde). Er erzählt energetisch, seiner Stimme lauscht man gern, er hat viel erlebt.

Als Dreijähriger war er das erste Mal im Theater (in einer Inszenierung von Peter Pan), er spielte Theater an der Schule und an der Universität („Professioneller Schauspieler? Nichts für mich!“), arbeitete mit Laurence Olivier, Judie Dench oder Anthony Hopkins.
Apropos Judie Dench: Sie ist neben ihm in der Verfilmung von Cats zu sehen, die in wenigen Wochen ins Kino kommt. Er hat die Rolle des Theaterkaters Gus, und er singt für uns dessen Lied. Noch können wir nicht ahnen, dass Cats eine Totalkatastrophe von Film, ein Jahrhundertflop werden würde. (Immerhin: McKellens Szene darin ist so ziemlich die einzig gute.)

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Die Edda: Götter raunen und witzeln in Wien

Pomp und Prunk im Burgtheater in Wien: Gemälde von ehemaligen SchauspielerInnen und IntendantInnen an den Wänden. Strahlende Kronleuchter. Marmor und Gold. Das Publikum steckt in Abendkleidern und Smoking.

Ins Burgtheater wollte ich immer schon mal – beim diesmaligen Wien-Besuch hats endlich geklappt. Ich buche das erstbeste Stück, das zeitlich reinpasst: Die Edda.
Die Edda, das ist die isländische Niederschrift skandinavischer Götter- und Heldensagen in zwei Versionen: der Prosa-Edda und der Lieder-Edda. Ein gewisser Snorri Sturluson hielt die mündlich überlieferte Geschichten im 13. Jahrhundert fest. Es geht in der Edda um den Anfang und den Untergang der Welt (Ragnarök), um Odin, Thor, Loki und Konsorten – man kennt das aus den Superheldenfilmen von Marvel.

Zwei Isländer haben nun diese Sammlung auf die Bühne gebracht, ursprünglich für das Schauspiel Hannover. Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson erhielt dafür 2018 den Deutschen Theaterpreis Der Faust. Im Burgtheater läuft die sogenannte Wiener Fassung, „mit zahlreichen neuen Texten und Szenen“, wies im Programm heisst. Quasi eine extended version. Das dauert dann auch drei Stunden.

Es beginnt mit mythischem Geraune: Die Bühne liegt im Halbdunkel und im Nebel. Eine durchsichtige Wand verhindert, dass sich dieser Nebel in den Zuschauerraum verflüchtigt. Wir hören die Völuspa, ein Gedicht, dass eine Art Zusammenfassung der nordischen Mythologie darstellt. Sinnig, das an den Anfang zu stellen und damit alles Folgende in einen Kontext zu setzen. Blöderweise wird das Gedicht gleichzeitig von zwei Sprecherinnen gelesen – einmal auf Isländisch, einmal auf Deutsch –, so dass man kein Wort versteht. Ich muss es nach der Vorstellung im Programmheft nachlesen. Und stelle fest, dass manches tatsächlich nachvollziehbarer gewesen wäre.

Nachdem die Völuspa zuende geht, hebt sich die erwähnte durchsichtige Wand. Vom Balkon aus beobachten wir, wie der Kunstnebel sich langsam im Zuschauerraum verteilt. Wir können ihn riechen, bevor er schliesslich bei uns auf dem Balkon ankommt.

Mit der Wand lichtet sich auch das Geraune, von nun an übernehmen ironische Brechung und die Mittel des Schwanks. Das ist zwar begrüssenswert, denn das Pathos des Beginns wäre mit der Zeit unerträglich geworden. Allerdings ist der Humor der Inszenierung noch unerträglicher.

Beispiel:
Erzählt wird die Episode, in der Loki (Florian Teichtmeister) der Frau von Thor – Sif – (beide: Marie-Luise Stockinger) die Haare klaut. Nachdem er das gemacht hat, wird er von Thor dazu gezwungen, zu den Zwergen zu gehen. Diese soll Loki dazu bringen, für Sif neue Haare aus Gold zu spinnen.
Die Zwergendarsteller tragen Spitzhüte und rutschen auf den Knien herum; ihre Mikrofone sind so eingestellt, dass ihre Stimmen hochgepeitscht werden.
Es kommt ein political correctness joke: Die Zwerge empören sich darüber, dass sie als Zwerge angesprochen werden. Man soll sie bitte als „Andershohe“ bezeichnen. Ha ha ha ha!
Mich nervt nicht einmal die Geisteshaltung hinter solchen Witzen – es ist vor allem die totale Abgedroschenheit der Pointe.

So zieht sich das in der ersten Hälfte durch: Vorgestrige Gags, simpler Slapstick, viel Gebrüll und Geschrei. Was halt in hochkulturellen Kreisen gemeinhin als witzig gilt.

Das Bühnenbild (Wolfgang Menardi): In der Mitte schwebt der Stamm von Yggdrasil, dem Weltenbaum. Darüber eine Decke aus einer Reihe von Leuchtstoffröhren – eine Decke aus Licht, beweglich wie eine Welle. Darunter dreht sich mitunter die Drehbühne. Alles schön anzusehen, aber kaum von Belang. Was dem Hollywoodfilm die CGI-Effekte sind, sind dem deutschsprachigen Regietheater die Bühnenbilder. Man muss dem Publikum was bieten fürs Geld.

Pause.

Danach Stimmungswechsel: Die Welt geht unter.

Einerseits Ragnarök: Das Bühnenbild ist nun eine Mischung aus Spielgerüst und apokalyptischer Müllhalde. Alles dreht sich auf der Drehbühne. (Wenn man schon eine Drehbühne hat …) Das Ende der Welt ist vollbracht, als besagtes Bühnenbild vollständig abgetragen ist. Überaus postmodern. Zwischendurch schlafe ich ein. (Zur Erinnerung: Das alles dauert drei Stunden.)

Andererseits Autobiografie: Odin-Darsteller Markus Hering spielt den Dramenautor Mikael Torfason, der von seinem Vater erzählt. Dieser war Lutheraner, Zeuge Jehovas und schliesslich Anhänger der isländischen Sagenwelt. Und er war Alkoholiker; er starb an einer kaputten Leber. Der zugänglichste Teil des Abends: Ein Mensch steht da und erzählt eine Geschichte.

Das Publikum ist entlassen.

Die Edda
Buch: Mikael Torfason
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson
Mit Dorothee Hartinger, Andrea Wenzl, Marie-Luise Stockinger, Markus Hering, Jan Bülow et al.

Werther – Reden rettet Leben

Ja, man könnte sich leicht verlieben in diesen Werther (Ilja Baumeier): Blaue Augen, blonde Mähne, Dreitagebart und eine coole gelbe Jacke mit einem „W“ auf dem Rücken. Er selbst wirft aber ein Aug auf eine junge Frau, Charlotte (Lua Leirner), genannt Lotte. Obwohl sie gehörlos ist, versteht er sich bestens mit ihr. Die beiden tanzen bei wummernder Clubmusik miteinander, und dabei verfällt Werther der jungen Frau völlig – doch sie ist bereits verlobt mit Albert (Yannick Frich).

Diese Bühnenfassung von Goethes Die Leiden des jungen Werthers behält zwar die Sprache von 1774 bei, versetzt die Geschichte aber in die Gegenwart. Gegenüber dem Briefroman ist sie stark gekürzt und dauert nur ungefähr eine Stunde – der Fokus liegt nun zum einen auf dem Thema Suizid, zum anderen gehts um Gehörlosigkeit.
So sehen wir das Stück dann auch im forum98 vom Gehörlosenzentrum Zürich. Dort wird das Stück unter anderem Leuten von den Gesundheits- und Bildungsinstitutionen vorgestellt; deswegen gibts vorher eine erklärende Einführung und im Anschluss ein Q&A.

So erfahren wir, dass die Idee ursprünglich vom Basler Psychotherapeuten Friedrich Kaiser stammt. Mit seiner Agentur Psy-Promotion fördert er Projekte zur Integration psychisch beeinträchtigter Menschen. Wie er sagt – und das liegt durchaus auf der Hand –, bietet sich der Roman dazu an, über Suizid zu sprechen. Daher der Untertitel: Reden rettet Leben. Eine Partnerin des Projekts ist die Stiftung Pro Mente Sana; das Theaterstück ist Teil ihrer Kampagne „Wie geht’s dir?“

Okay, Werther und Suizid, das klingt logisch. Aber Gehörlosigkeit? Wie Kaiser erklärt, dreht sich Goethes Briefroman immer wieder um die Frage des Verstehens und Verstandenwerdens. Da sei schnell die Verbindung zum Hören und Gehörtwerden gezogen. Tatjana Binggeli, die Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbunds (SGB-FSS) – ein weiterer Partner des Projekts –, weist zudem darauf hin, dass sich die Frage der Suizidprävention unter den Gehörlosen verschärft stellt. Klar: Wenn man jemanden zum Reden braucht, stellt die Gehörlosigkeit eine zusätzliche Barriere dar.
(An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass das Sorgentelefon auch über Mail oder Chat erreichbar ist.)

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Theater Spektakel 2019: The Palestinian Circus

Auf der Seebühne liegen acht Holzkisten, und ein Trapez hängt von der Decke. Was wird sich hier wohl abspielen? Wir warten auf das Stück Sarab des Palestinian Circus. Der Name der Kompanie habe ich sofort gewisse Bilder im Kopf — es wird wohl um die Situation in Palästina gehen.
Nach und nach treten sieben AkrobatInnen auf, die Vorstellung beginnt. Wir erleben eine Abfolge von Szenen, in denen die Kisten immer wieder neue Funktionen übernehmen:

  • Einmal bilden sie eine Mauer, auf denen sich die Performer drängen. Sie wollen die Mauer überwinden, haben jedoch Angst vor dem Sprung.
  • Ein andermal dienen sie als eine Art Treppe, die zum Trapez führt. Eine Akrobatin wird ins Trapez gehängt, die Treppe wird abgebaut – sie muss oben bleiben, hilflos.
  • Und wiederum ein andermal stehen die Kisten für die Aussenwand eines Bootes. Die AkrobatInnen stehen darin und wiegen sich hin und her, als wären sie in hohen Wellengang geraten (dass das Stück auf der Seebühne gespielt wird, mit Ausblick auf den Zürisee und einige Schiffe, gibt der Szene eine spezielle Note).

Man merkt, es geht weniger um die palästinensische Sache im Spezifischen, als um die Erfahrungen von Flüchtenden überall auf der Welt. Zugegeben, bei mir brauchte es eine Weile, bis sich die Bilder im Kopf angepasst haben.
Nach der Vorstellung gibt es eine Fragerunde; die AkrobatInnen und ihr Leiter, der Brite Paul Evans, stellen sich dem Publikum. Sie schildern, wie sie mit Geflüchteten sprachen, ihre Geschichten recherchierten. Sarab, das Wort im Titel, das arabische Wort für Fata Morgana, stehe für die Illusion eines besseren Ortes, eines besseren Lebens.
Natürlich flossen auch ihre Erfahrungen als PalästinenserInnen, also quasi als Flüchtlinge im eigenen Land ein. Daraus entwickelten sie Szenen mit akrobatischen Nummern.

Nun darf man von diesen AkrobatInnen keine Leistungen wie beim Zirkus Knie erwarten: Die Palestinian Circus School wurde 2006 in Ramallah gegründet und richtet sich an Kinder und Jugendliche. Ihre Ressourcen sind beschränkt, ihre Akrobatik ist eher einfach: Sie jonglieren, sie zeigen breakdance moves und stellen eine Kletterstange auf, die nicht höher als der durchschnittliche Maibaum ist. Es gibt keine Liveband, sondern Lautsprecher, aus denen Techno mit arabischen Einflüssen kommt. Spezialeffekte: Explosionsgeräusche und Schreie vom Band, eine Nebelmaschine. Sie tragen keine teuren Kostüme mit Pailetten.
Aber wie die Truppe die Mittel des Zirkus anwendet, um Geschichten zu erzählen, macht den Palestinian Circus sofort enorm interessant. Interessanter als den Zirkus Knie.

Hierfür ein weiteres Beispiel: Drei der Performer stehen auf jeweils einer Kiste – Schirmmützen und Körperhaltung machen sie als Autoritätspersonen kenntlich. Sie werfen Gummibälle, die ein Flüchtling einfangen und zurückwerfen muss, was schwieriger und schwieriger wird. Ein eingängliches Bild.

Während der Fragerunde meldet sich auch ein Mann, der offensichtlich völlig betrunken ist. Er schickt vor, dass er das Stück nicht gesehen hat (sich also nach dem Ende der Vorstellung reingeschlichen hat) und fragt die Mitglieder des Palestinian Circus, ob sie sich als Antisemiten verstehen. Leiter Paul Evans antwortet sehr souverän darauf, was mich vermuten lässt, dass das keine Frage ist, die der Zirkus zum ersten Mal hört. So ist das wohl mit den Bildern, die die Leute im Kopf haben.

The Palestinian Circus: Sarab
Künstlerische Leitung: Paul Evans
Theater Spektakel, Seebühne: So 25.8.–Di 27.8.
Premiere: Ramallah, 2018