„Die Japaner haben Selbstironie“

Regisseur Stefan Jäger über seinen Film Der grosse Sommer

Letzten April verstarb der Volksschauspieler Mathias Gnädinger; für seinen letzten Film übernahm er die Rolle des Anton Sommer. Der war einst ein Schwingerkönig (interessantes Detail am Rande: den jungen Sommer spielt Gnädingers Sohn Gilles Schyvens), lebt jetzt aber als grummeliger Alter zurückgezogen in einer einfachen Wohnung. Seine Zeit verbringt er mit dem Bau von Buddelfischen oder Besuchen auf dem Friedhof.
In der Wohnung über seiner lebt die Vermieterin (Monica Gubser) zusammen mit ihrem verwaisten Enkel, dem Halbjapaner Hiro (Loïc Sho Güntensperger). Der grösste Wunsch des Kleinen besteht darin, Sumoringer zu werden. Als seine Oma stirbt und Hiro herausfindet, dass Sommer einst ein berühmter Schwinger war, stellt er dem Alten ein Ultimatum: Entweder, er bringt ihm das Ringen bei und geht mit ihm nach Japan, oder er wirft ihn aus dem Haus.
Also reist Sommer, der in seinem Leben kaum über den Kanton Bern hinaus gekommen ist, mit Hiro in den fernen Osten.

Stefan Jäger
Geboren 1970 in Uster, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Drehbuch und Regie. Geschäftsführer der tellfilm GmbH, Mitglied der Schweizerischen und der Europäischen Filmakademie, Dozent an der Filmakademie Baden-Württemberg und an der ZHdK. Schrieb mit Xavier Koller das Drehbuch zum Schellen-Ursli (2015), drehte mit Gnädinger bereits Im Namen der Gerechtigkeit (2001) sowie Hunkeler und der Fall Livius (2009).

Der Kulturmutant hatte Gelgenheit, mit dem Regisseur Stefan Jäger über die Dreharbeiten zu sprechen. Er erzählt von der Weltpremiere in Tokio, Übersetzungsgeräten und davon, für wen er seine Filme dreht.

 
Kulturmutant: Die Uraufführung von Der grosse Sommer fand ja in Tokio statt. Wie lief das ab?

Stefan Jäger: Als wir damals gedreht haben im Oktober 2014, wurden wir von der Schweizer Botschaft eingeladen. Nach einem Drehtag sind wir am Abend alle dorthin, auch Mathias Gnädinger. Das war ein schöner Abend. Sie haben uns dann spontan eingeladen und gesagt: „Wenn der Film fertig ist, würden wir gerne die Premiere ausrichten.“ Und im Andenken an Mathias haben wir das sehr gern wahrgenommen.

Was war das denn für ein Publikum?

Vor allem Japaner und ein paar Vertreter von Schweizer Niederlassungen in Japan, zum Beispiel von einer Schokoladenmarke oder von der Swiss, die uns die Flüge gesponsort hat. Und natürlich waren auch die japanische Crew und die Schauspieler eingeladen. Der Film ist zweimal in Tokio gelaufen und in Kagoshima, wo wir auch gedreht haben, und dann sind wir noch in die Sumoschule, wo wir den Film den ganzen Sumokids gezeigt haben.

Regisseur Stefan Jäger (rechts) mit Mathias Gnädinger.
Dort spielt ja auch ein Teil der Handlung. Wie haben die Japaner auf den Film reagiert?

Sie haben mehr Selbstironie, als wir erwartet haben. Sie haben wirklich lachen können über die eigenen Befindlichkeiten und die Klischees, die wir am Anfang vom Film natürlich bewusst gesetzt haben. Aber je weiter die Reise von Sommer und Hiro geht, desto mehr überwinden wir ja die Klischees und desto mehr sieht man, was dahinter steckt. Der Film hat die Japaner auch berührt; ich war überrascht, wie viele die Taschentücher rausgenommen haben. Es war unser Ziel, ein Feelgood-Movie zu machen. In dem Genre darf man ja lachen, aber auch mal eine Träne verdrücken. Das ist in Japan sehr gut aufgegangen.

Am Film habe ich geschätzt, dass er ein Japan aus der Froschperspektive zeigt, dass er mitunter etwas Dokumentarisches hat. Ihr hattet ja auch kein riesiges Budget.

Nein, wir hatten ein ganz kleines Budget. Wir haben zum Teil schon dokumentarisch gedreht, zum Beispiel auf dieser Kreuzung in Tokio oder in der U-Bahn, da gibt es keine offizielle Drehgenehmigung. Also, egal, wie gross die Produktion ist. Das haben wir von Anfang an gewusst, das hat auch unsere service production in Japan so organisiert.
Ich glaube, das Dokumentarische kommt auch von Theo Plakoudakis, einem der beiden Drehbuchautoren. Er ist vor mittlerweile fünf Jahren nach Japan gereits, ohne Dolmetscher, ohne Vermittler, und hat das alles so ähnlich erlebt. Das ist wirklich sein Blick als unerfahrener Tourist, der von Grund auf lernen muss: „Wie funktioniert dieses Land und diese Sprache?“ Aus dem heraus haben wir auch den Translator erfunden, den es in diesem Sinn ja noch nicht gibt.

Das ist ja tatsächlich ein Science-Fiction-Element. Wie seid ihr auf dieses kleine Übersetzungsgerät gekommen?

Wir wollten ja von Anfang an möglichst viele Schweizer erreichen und dann haben wir uns gefragt: „Was haben Schweizer nicht so gern im Kino in Schweizer Filmen?“ Und das ist Untertitel lesen. Und wenn man einen Schweizer Film macht, dann muss man eben mit der Sprache arbeiten, mit den Dialekten, vor allem mit dem Berndeutsch. Die Geschichte spielt am Anfang ja in Bern – wir mussten den Buben Berndeutsch lehren, damit das glaubwürdig ist.
Und jetzt war die Frage: „Wie lösen wir das Problem?“ Denn sobald zwei Schweizer nach Japan gehen, wird natürlich auch Japanisch gesprochen. Entweder übersetzt Hiro alles, wie am Anfang des Filmes, aber irgendwann will er ja nicht mehr. Dann ist der Sommer auf etwas angewiesen, mit dem er sich zurechtfindet, auch ohne den Buben. Und dann sind wir auf die Idee mit dem Translator gekommen.

Der war also schon in der Projektentwicklung drin?

Ja. Das haben wir vorher testen müssen, denn rhythmisch ist das hochkomplex. Die Schauspieler hatten einen Knopf im Ohr und die beiden Übersetzer sprachen ihnen vor Ort ständig ins Ohr. Zum Teil überlappt es sich, das ist ja keine klassische Übersetzung, wo zuerst ein Satz gesprochen wird und dann kommt der nächste. Nein, diese kleine Maschine ist so schlau, dass sie schon parallel übersetzt. Dafür haben wir rhythmisch noch in der Schweiz eine Lösung finden müssen.

Du hast vorhin den Drehbuchautor Theo Plakoudakis erwähnt, aber er hatte ja noch einen Kollegen.

Marco Salituro. Beide haben sie die Schauspielschule in Bern gemacht. Theo ist der Hauptautor. Marco ist mittlerweile in einem ganz anderen Beruf tätig und hat dadurch relativ wenig Zeit gehabt, aber er war für Theo immer der Rückhalt oder das Backup gewesen, wenn es um eine neue Fassung gegangen ist.

Sind denn die beiden mit der Idee zum Projekt zu dir gekommen, oder umgekehrt?

Sommer (Mathias Gnädinger) spricht in den Translator.
Wir hatten mal ein wunderschönes Projekt namens Secondo Secondo oder Die kleinen Schweizer. Da sind wir sehr weit gekommen, hatten auch fast schon die Finanzierung, und da hätte Mathias mitgespielt, in einer kleinen Rolle als Bundespräsident. Es geht um zwei Secondos, Kinder. Der eine Teil behauptet, er sei schon Schweizer, obwohl er es noch überhaupt nicht ist, und der andere will unbedingt auch Schweizer werden. Und so bringt ihm der erste bei, wie man Schweizer wird.
Dieses Buch ist uns vermittelt worden über die Schauspielerin Mona Petri, die mit Theo und Marco in der Schauspielschule war, alle drei in der gleichen Klasse. Sie hat mir die beiden irgendwann vorgestellt und sie haben uns ihre Ideen gepitcht. Aus der ersten Idee heraus haben wir Die kleinen Schweizer entwickelt und als daraus nichts geworden ist, hatten wir zum Glück diese Idee mit Sumo, Schwingen, Schweiz und Mathias Gnädinger, für den sie das Drehbuch ja geschrieben haben. Dann ist es noch einmal drei, vier Jahre gegangen und dann haben wir angefangen zu drehen.

Gnädinger ist natürlich perfekt für die Rolle, schon von der Figur her.

Das sieht man auch schön in dem Moment, in dem er dem Sumoringer gegenübersteht.

Vor Ort hattet ihr ja ein japanisches Team.

Der Grossteil kam über die service production, die uns die Leute vermittelt haben. Da waren wir Schweizer in der Minderheit. Das japanische Team war hochprofessionell und es hat grossen Spass gemacht, dort zu arbeiten.

Ihr seid ja nicht das erste ausländische Team, mit dem die arbeiten.

Nein, nein, die haben auch Kirschblüten von Doris Dörrie gemacht. Mit ihr allein haben sie schon fünfmal zusammengearbeitet. Oder sie haben Enter the Void von Gaspar Noé gemacht, Videoclips für Madonna oder Mariah Carey. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, für ausländische Filmproduktionsfirmen sozusagen die Türe zu öffnen.
Da war bei den Vorbereitungen auch ein Halbjapaner dabei, der den Kontakt zur Sumo-Vereinigung hergestellt hat. Dort im Stadion zu drehen ist eigentlich kaum möglich. Einer der Höchsten in dieser Sumo-Vereinigung spielt auch im Film mit, denn sein Sohn war in der Schweiz im Internat, das war ein grosser Zufall. Wir standen unter einem guten Stern. Zweimal mussten wir einem Taifun ausweichen, aber das hat uns überhaupt nicht aus dem Takt geracht. Wir haben alles machen können, was wir wollten, und das trotz kleinem Budgeht und trotz strengen Drehtagen.

Überrascht war ich darüber, dass Mitsuko Baishô die japanische weibliche Hauptrolle gespielt hat.

Das kam auch über die service production. Die haben ja gecastet, was wir uns noch vor Drehbeginn angeschaut haben, und bei Mitsuko Baishô habe ich sofort gesagt: „Unbedingt!“ Dann haben sie schon gesagt: „Das ist halt die Topliga, das ist, wie wenn du in Amerika Meryl Streep willst.“
Innerhalb von zwei Wochen hiess es dann, dass ich sie treffen darf. Das war ungefähr ein halbes Jahr vor dem Dreh. Sie wollte es von dieser Begegnung abhängig machen. Wir haben dann sofort eine gemeinsame Sprache gefunden, also, über Dolmetscher natürlich. Ich habe dann gesagt: „Wir müssen unbedingt proben.“ Ich wusste ja, wie wichtig für Mathias das Proben ist. Und da hat sie gelacht und gestrahlt und gesagt, auf Englisch: „Yes, we’re old-fashioned people.“ Das gehört für sie zur Tradition, mit Kurosawa hat sie immer geprobt, das war normal. Aber mittlerweile ist es auch in Japan so, dass man nicht wirklich Zeit dafür hat.

Sommer und Hiro (Loïc Sho Güntensperger) schauen sich eine Sumoschule an.
Als sie dann zu den Proben mit Mathias kam, war es magisch, dermassen haben die beiden miteinander funktioniert. Da ist eine Chemie zwischen den beiden, die mich jedes Mal umhaut, wenn ich das auf der Leinwand sehe.
Wir haben eine Szene, die nicht einmal im Film ist – sie wird dann auf der DVD im Bonusmaterial sein –, in der sie einen traditionellen Tanz tanzt. Das ist eine zweiminütige Einstellung, hochkomplex, das haben wir zwölfmal gemacht.

Der grosse Sommer war ja der dritte Film, den du mit Gnädinger gemacht hast. Wart ihr gut aufeinander eingespielt?

Ja, aber eigentlich schon von Anfang an, als ich meinen ersten Film mit ihm gemacht habe. Bei unserer ersten Begegnung ist er reingekommen und hat sofort angefangen, über die Rolle zu reden, und ich hab dann etwas zu dieser Rolle gesagt, und bald hab ich gemerkt: „Jetzt ist er bereit, mir alles zu geben.“ Als Schauspieler, aber auch als Mensch. Wir haben uns über die Jahre privat immer besser kennen gelernt; zum Teil haben wir uns natürlich auch über längere Zeit nicht mehr gesehen.
Aber das war dann auch ein Grund, warum ich mit seiner Frau, der Ursula [Zarotti Gnädinger], einen Dokumentarfilm für die Sternstunde Kunst machen durfte. Für mich war berührend, was für einen unglaublichen Spielreichtum dieser Mensch hatte, wie viele Filme er gemacht hat, wie viele Theaterstücke, Hörspiele – und auch die ganz ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen ihm und Ursula; sie haben sich ja mit zwölf Jahren kennen gelernt. Mit ihr haben wir in diesem Film noch einmal in Ruhe, oder einfach auf eine andere Art, Abschied nehmen können.
Wir haben auch Regisseur getroffen wie Markus Imhoof oder Bernhard Giger, mit dem Mathias Der Gemeindepräsident gedreht hat. In der Widerbegegnung mit ihnen erinnert sich Ursula an den Mathias. Ich glaube, diese Art hätte ihm auch gefallen: Anekdoten erzählen und sich im Gespräch gemeinsam erinnern. Der Rahmen ist natürlich, dass ich das traurige Glück hatte, der letzte Regisseur zu sein, der mit ihm arbeiten durfte. Dann geh ich eben mit Ursula auf die Reise in die Vergangenheit von diesem grossartigen Menschen und Schauspieler Mathias Gnädinger.

Man merkt im Film auch, dass er es gut hatte mit Loïc Sho Güntensperger, dem jungen Darsteller von Hiro. Der hatt hier seine erste Rolle.

Wir haben das mit Loïc sehr intensiv vorbereitet. Theo, der Drehbuchautor, hat ihn auch gecoacht und Berndeutsch gelernt, er war dann auch beim Dreh dabei. Mathias hat sofort gespürt, dass wir mit dem Bub gearbeitet haben. Er war ja einer, der sich sehr, sehr gut vorbereitet hat. Er hatte nie Mühe, mit Kindern oder Laien zu spielen. Er hat immer gesagt: „Die können das auch. Es ist zwar eine Kunst, aber wenn man es will und sich vorbereitet, dann kann man es.“ Und da haben die beiden wirklich von Anfang an wunderbar harmoniert.

Du machst ja nicht nur Filme, du arbeitest auch als Filmdozent. Mich würde interessieren, wie sich das gegenseitig beeinflusst.

Wenn ich unterrichte, bin ich mir bewusst, welche von meinen Filmen meine Studenten interessieren. Ich weiss zum Beispiel, den Grossen Sommer finden sie vielleicht okay, aber das ist jetzt kein Film, den sie schauen würden, wenn ich ihn nicht gemacht hätte. Ob sie den jetzt überhaupt sehen, ist eine andere Frage, ich zwinge sie ja nicht dazu. Aber ich werde mir in der Auseinandersetzung mit meinen Studenten immer mehr bewusst, für wen wir Filme machen. Ich habe lange Zeit Filme gemacht, die einfach ich selber unbedingt sehen wollte, aber Der grosse Sommer spricht auch irgendeinen Bauern im Emmental an. Ich will nicht nur Filme machen, die meine Studenten oder ich selbst cool finden, sondern auch ein ganz einfacher Zuschauer, den ich wahrscheinlich nie kennen lerne, der einfach so im Kino sitzt und glücklich ist.

 

Der grosse Sommer
Schweiz 2016, 99 Min.
Regie: Stefan Jäger
Buch: Theo Plakoudakis, Marco Salituro
Mit Mathias Gnädinger, Loïc Sho Güntensperger, Mitsuko Baishô, Hanspeter Müller-Drossaart et al.

 

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