The End of the Track: Ein Schmuddelfilmer fängt klein an

The End of the Track (1970) ist der zweite Spielfilm von Tun-Fei Mou (1941–2019), auch bekannt als T. F. Mous.
Wer sich mit dem extremen asiatischen Kino auskennt, weiss: Das ist der Regisseur von Men Behind the Sun (Hei tai yang 731), einem berüchtigten Exploitation-Film von 1988. Der handelt von den Kriesgräueln der Japaner während des Zweiten Weltkriegs in China. Genauer gesagt, von der Einheit 731 unter Führung von General Shiro Ishii (auch bekannt als japanischer Mengele). Der Film zeigt im Detail, wie die Einheit Experimente an Menschen durchführt.

Unter anderem ist zu sehen, wie die Militärärzte einer Frau die Unterarme einfrieren. Nach einer Weile darf sie sie in ein Becken mit warmem Wasser halten. Danach schält ihr ein Arzt die Haut der Arme von den Knochen wie Handschuhe.

Ein andermal locken die Ärzte einen chinesischen Jungen in einen Operationssaal – wo sie ihn betäuben und seine Organe für die Forschung entnehmen. Angeblich hat Mou für die Szene die Erlaubnis eingeholt, die reale Autopsie an einem Kind zu filmen.

Harter Stoff. Mou sagt in Interviews immer wieder, dass es sein Bedürfnis gewesen sein, die Welt über die Verbrechen der Japaner aufzuklären. Men Behind the Sun fährt aber, wenn wir Filme über ein anderes Menschheitsverbrechen zum Vergleich heranziehen wollen, weniger die Schiene von Schindler’s List als die von Ilsa, She Wolf of the SS.
Will sagen: Das ist Sensationalismus unter einem Deckmäntelchen von Pseudo-Aufklärung. Bestenfalls ist es Propaganda.

Der Film erhielt zwei Sequels von anderen Regisseuren, Mou selbst drehte später Black Sun: The Nanking Massacre (1995) über das Wüten der japanischen Armee in Nanking 1937. Daneben filmte er Martial-Arts-Filme, Action und Erotik.

Aber wie sieht nun das Frühwerk dieses Mannes aus?

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Disciples of Shaolin: Schlacht der Webstühle

Cheh Chang (1923–2002) war einer der ganz grossen Namen des Martial-Arts-Genres und des Hongkong-Kinos. Er stieg schon in den 1940ern ins Filmgeschäft ein, damals noch in Shanghai. Nach der Machtübernahme der Kommunisten verschlug es in nach Taiwan, weil er der Kuomintang nahestand und insbesondere Chiang Ching-kuo, einem Sohn von Parteiführer Chiang Kai-shek.
1957 zog es Chang nach Hongkong. Dort heuerte er beim Shaw Brothers Studio an und etablierte sich mit dem immensem Erfolg von One-Armed Swordsman (1967) als Regiestar.

Unter anderem führte er Co-Regie bei The Legend of the 7 Golden Vampires (1974), einer Zusammenarbeit der britischen Hammer Films mit dem Shaw Brothers Studio. Da kämpft Peter Cushing als Van Helsing in China gegen hüpfende Vampire.

Zur Erläuterung: Die Shaw Brothers waren damals die absoluten Könige der Hongkonger Filmindustrie und prägten das, was man sich unter einem Martial-Arts-Film vorstellt. Zumindest, bis das Konkurrenz-Studio Golden Harvest ihnen den Rang ablief (selbiges hatte es geschafft, einen gewissen Bruce Lee zu verpflichten).

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Les granges brûlées (1973)

Im Grunde ist Les granges brûlées ein simpler Krimi — zwei Männer vom Winterdienst finden eines Morgens die Leiche einer jungen Frau. Ganz in der Nähe steht ein Hof, genannt „les granges brûlées“ (Die abgebrannten Scheunen). Dort hat die Mutter Rose (Simone Signoret) ihre Familie fest im Griff. Ein Untersuchungsrichter (Alain Delon) schaut sich die Sache näher an — und kommt zum Schluss, dass der Sohn von Rose etwas mit der Sache zu tun hat.

So weit, so fein. Fokus des Films ist das Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Mutter und dem Untersuchungsrichter. Alain Delon und Simone Signoret beweisen sich in den Hauptrollen als Grössen der französischen Schauspielerei — fesselnd zum Beispiel, wie der Richter Rose gegenüber immer wieder ein leicht falsches Lächeln aufsetzt, während sie ihn mit kühlem Schweigen abstraft. Les granges brûlées ist, nicht nur im Bezug auf die beiden, ein Film der vielsagenden Blicke und der ausgefeilten Mimik. Signoret und Delon waren übrigens schon 1971 in der Georgese-Simenon-Verfilmung La Veuve Couderc aufeinandergetroffen.

Apropos Schauspieler: Das hier schreibt das Filmpodium:

Der Fernsehregisseur Jean Chapot erwies sich als ausserstande, bei seinem ersten grossen Kinofilm einen Star wie Alain Delon in den Griff zu kriegen, sodass Delon in den letzten Wochen zusammen mit dem Regieassistenten Philippe Monnier selbst die Inszenierung übernahm. Als Roses Tochter Françoise ist Signorets eigene Tochter Catherine Allégret zu sehen.

Nebenbei ist Les granges brûlées ein faszinierender Einblick in die französische Provinz der 70er. Soweit ich das sehe, wurde der Film weitgehend an Originalschauplätzen gedreht: Grandiose Bilder der Winterlandschaft, eine stickige Beiz, ein halb-vornehmes Hotel — der heruntergekommene Hof von Roses Familie.
Das Team drehte auf einem damals verlassenen Bauernhof (meint Wikipedia), und der Ort wirkt in der Tat sehr real. Falls die Innenaufnahmen des Bauernhauses im Studio entstanden, dann ein grosses Lob an den Dekorateur: Der Schmutz in der Uhrenwerkstatt von Roses Mann. Die Küche, in der nur ein kleiner Teil geplättelt ist. Die knarrenden Böden, das alte Bett im engen Gästezimmer. Ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen und kenne das, zumindest noch aus meinen Kindertagen. Dass die junge Generation sich mit einem solchen Leben nicht mehr abfinden mag, ist ein Thema des Films.

Was Les granges brûlées letztendlich von anderen Krimis abhebt, ist die Tonspur, denn beim Soundtrack handelt es sich um eine frühe Arbeit von Jean-Michel Jarre, einem Spezialisten für elektronische Musik. Dieser wurde etwas später mit dem Album Oxygène (1976) welberühmt. So werden in Les granges brûlées die Krimihandlung und die naturalistischen Aufnahmen durch die elektronische, fremdartig anzuhörende Musik konterkariert. Sie scheint mehr zu einem Science-fiction-Film zu passen, aber gerade dieser Kontrast ist äusserst reizvoll — und natürlich passt die verstörende Musik zur verstörenden Wahrheit, die unter der Oberfläche der friedlichen Dorfwelt lauert.
Besonders schön kommt der Kontrast im Titelstück hervor, wo die harten Elektroklänge auf eine sanfte Frauenstimme treffen. Wundervoll.

Les granges brûlées
Frankreich/Italien 1973, 95 Min.
Regie: Jean Chapot
Drehbuch: Jean Chapot, Sébastien Roulet
Musik: Jean-Michel Jarre
Mit Simone Signoret, Alain Delon, Bernard Le Coq et al.

Oldboy: You Only Live Thrice

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Goto kommt in einem Stadtpark zu sich. Er hat keine Ahnung, wo er sich befindet, oder wie genau er dorthin gekommen ist. Aber für ihn ist dieser Park ein Wunder — denn seit zehn Jahren hat er kein Gras mehr unter den Füssen gespürt, hat den Sternenhimmel nicht mehr gesehen, keine frische Luft geatmet. Zehn Jahre lang war er eingesperrt in einer kleinen Zelle, einem kargen Raum in einer Art Privatgefängnis. Jetzt treibt ihn nur noch eine Frage um: „Wer hat mir das angetan? Und zu welchem Zweck?“
In der Bar, in der er sein erstes Bier seit langer Zeit trinkt, lernt er Eri kennen, eine junge Kellnerin. „Alter Knabe … Wenn Sie deshalb nicht schlecht von mir denken … Möchten Sie zu mir kommen?“ Er wird ihr Liebhaber, sie hilft ihm dabei, seinen Peiniger ausfindig zu machen.

Die Mangaserie Orudo Boi packt einen von den ersten Seite an mit einem faszinierenden Rätsel, und bis zur letzten Seite bleibt es spannend, Goto und Eri bei der Detektivarbeit zu begleiten. Zum Beispiel: In den Jahren der Gefangenschaft hat Goto stets denselben Frass aus demselben chinesischen Restaurant essen müssen. Wenn er das Restaurant findet, hat er eine Spur zu seinem Gefängnis und damit zu den Leuten, die ihn weggesperrt haben. Seine Geschmacksnerven werden ihm den Weg weisen: „Glaubst du, ich vergesse den Geschmack der Gerichte, die ich zehn Jahre lang jeden Tag gegessen habe?“
Zwar gibt es tausende von Chinesen in der Stadt. Doch dank eines Fitzelchen, den Goto einmal in seinem Essen gefunden hat, weiss er den Namen des Restaurants: Blauer Drache. Davon gibt es nicht ganz so viele. Zusammen mit Eri besucht er alle davon und probiert jeweils die Teigtaschen. „Ich finde, es gibt kein chinesisches Gericht, dass sich so sehr von Laden zu Laden unterscheidet.“
Blöd nur, dass keines der Restaurants die richtigen Teigtaschen macht. Doch da hat Eri einen Geistesblitz …

Wie es sich für ein anständiges Mystery gehört, wirft jede Frage, die die beiden beantworten können, zwei weitere auf. Gar nicht so einfach, diese Manga wieder aus der Hand zu legen. Nur bei der Auflösung bin ich mir etwas unschlüssig – nach über 1600 Seiten erscheint sie seltsam antiklimaktisch, allerdings scheint gerade das der Punkt zu sein.

 
Von Japan nach Südkorea

Hier kommt nun Park Chan-wook ins Spiel. Der südkoreanische Filmemacher feierte 2000 in seinem Heimatland einen gewaltigen Erfolg mit Joint Security Area — in dem Krimidrama untersucht eine Offizierin aus der Schweiz (!) eine Schiesserei an der Grenze zwischen Nordkorea und Südkorea, bei der zwei nordkoreanische Soldaten umgekommen sind. Es war der bis dahin erfolgreichste südkoreanische Film.
Das gab Park die Chance, seine Rache-Trilogie in Angriff zu nehmen: Zuerst Sympathy for Mr. Vengeance (2002), zuletzt Lady Vengeance (2005) und dazwischen eben Oldboy (2003).

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Mit der Pistole am Set

Angeregt von der Sam-Peckinpah-Retrospektive am vergangenen Filmfestival Locarno, zeigt das Filmpodium das Kinoschaffen des Regisseurs. Darunter auch die Special Edition von Pat Garrett & Billy the Kid — ein Abgesang auf das Western-Genre, entstanden aus einer desaströsen Produktionsgeschichte heraus.

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Im Jahre 1973: Sam Peckinpah und James Aubrey sind schlecht aufeinander zu sprechen.
Aubrey sitzt im Chefsessel der Prduktionsfirma MGM. Um ein Hotelprojekt in Las Vegas finanzieren zu können, beschneidet er unter anderem das Budget für Pat Garrett & Billy the Kid. Er gibt einen viel zu engen Zeitplan vor und mischt sich in die Einzelheiten des künstlerischen Prozesses ein (unter anderem, weil er den Film zu schwierig für das Publikum findet).
Peckinpah, der Regisseur, am Set meist sturzbesoffen, bedroht dafür Aubreys Mittelsmänner mit Messer und Pistole. Als er erkennt, dass das Material der ersten Drehwoche nicht zu brauchen ist, klettert er auf einen Stuhl und uriniert auf den Bildschirm. Der Studioboss untersagt Nachdrehs; Peckinpah filmt sie einfach heimlich.
Nachdem Peckinpah Budget und Deadline gnadenlos überschritten hat, nimmt ihm Aubrey den Film weg und lässt ihn auf eine Fassung von 106 Minuten runterschneiden, die sowohl an den Kinokassen als auch bei den Kritikern durchfällt. Immerhin schaffen es Peckinpahs Leute, eine unfertige Previewfassung aus dem Schneideraum zu stehlen, die 122 Minuten läuft.

Die vorherrschende Sicht auf den Fall besteht darin, dass Aubrey Peckinpahs künstlerische Vision kastriert hat. Aber bevor man zuviel Mitleid mit dem Regisseur hat: Drehbuchautor Rudy Wurlitzer ist auch nicht besonders glücklich gewesen mit dem, was Peckinpah aus seinem Skript machte. Ursprünglich hätte Wurlitzers guter Freund Monte Hellman Regie führen sollen; es war Hauptdarsteller James Coburn, der sich für Peckinpah einsetzte. Der wiederum tat im Alkoholrausch alles in seiner Macht, um Aubrey auf den Schlips zu treten.

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John Waters: Cry-Baby

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John Waters in Zürich: Während im Kunsthaus die Ausstellung How Much Can You Take? läuft, zeigt das Filmpodium eine Retrospektive seines cineastischen Schaffens. Den Anfang macht „Cry-Baby“, eine knallbunte Parodie auf die Musicals der 50er-Jahre — mit Johnny Depp in der Titelrolle.

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Komm mal her! Dort drüben stehen die squares (die Braven). Sieh sie dir an, in ihren Strickjacken und Faltenröcken.
Dort drüben hängen dagegen die drapes ab (die Bösen). Sie tragen Lederjacken und fahren Motorräder. Und Gel schmieren sie sich ins Harr, jede Menge Gel. Das meiste davon hat Cry-Baby auf dem Kopf, ein jugendlicher Unruhestifter, wie er im Buche steht.

Die Spitzenschülerin Allison verguckt sich in den bösen Jungen (kein Wunder: ein blutjunger Johnny Depp spielt ihn).
Er wiederum verguckt sich in sie (kein Wunder: bei den himmelblauen Augen von Amy Locane wird jeder Mann schwach).
Es ist Liebe auf den ersten Blick.
Während die drapes kein Problem damit haben, das kreuzbrave Mädel bei sich aufzunehmen, drehen die squares fast durch. Angeführt von Allisons (Ex-)Freund nehmen sie grausame Rache an Cry-Babys Motorrad — und das ist erst der Anfang.

In den Fünfzigern waren Filme über rebellische Teenager der Hit (stell dir mal Marlon Brando und James Dean vor). Und denk an „West Side Story“, wo sie schon einmal „Romeo and Juliet“ als Musical durchprobiert haben. Hinzu stösst ein letzter grosser Einfluss, der King nämlich: Da versammeln sich die ganzen drapes am Turkey Point, einem stadtbekannten Schwimmtümpel (die squares sagen dazu „Redneck Riviera“). Sie wollen Cry-Baby singen hören. Der tritt mit der E-Gitarre und einem Outfit auf die Bühne, das jeder Beschreibung spottet: Ein Fiebertraum von Elvis Presley, kurz vor dem pillenbedingten Exodus. Johnny Depp singt zwar nicht selbst, aber den Hüftschwung hat er drauf.

John Waters dreht das Kino und die Musik der Fünfziger durch den Fleischwolf, streut Zuckerwatte und Rotz darüber und inkorporiert jeden noch so albernen Einfall.
Beispiel: Cry-Baby landet im Knast, entkommt aber durch die Kanalisation. Bald total verirrt, trifft er auf eine freundliche Ratte, die ihm den Weg in die Freiheit zeigt — aber Achtung, der fiese Nager ist ein Arschloch und führt Cry-Baby direkt in die Arme der Gefängniswärter. Während sich der Gelinkte ärgert, lacht sich die Ratte ins Fäustchen.

Was für eine Wundertüte von Film! Da läuft plötzlich Iggy Pop als Cry-Babys Onkel durch die Gegend. Oder hat Willem Dafoe einen Mini-Auftritt als schleimiger Gefängniswärter. Oder spielt Pornotante Traci Lords eins der Mädels aus Cry-Babys Gang.

Den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt jedoch Kim McGuire als Hatchet-Face. Ihren Spitznamen kann man grob mit „Hackfresse“ übersetzen, und bei allem, was recht und billig ist: Das ist tatsächlich die mit Abstand abscheulichste Schnute, die jemals auf Film gebannt wurde. Steve Buscemi würde gegen Hatchet-Face gewinnen, täten die beiden bei einer Miss-Wahl antreten. Was für eine Frau!

Wieso rede ich überhaupt noch? Wer sich diesen Film jetzt nicht sofort ansieht, ist total square.

 
Die weiteren Spielzeiten findet ihr hier.

Cry-Baby
Regie & Drehbuch: John Waters
USA 1990, 85 Min.
Mit Johnny Depp, Amy Locane, Ricki Lake, Traci Lords, Iggy Pop u.a.