Die Allerliebste und ich fahren von der Innenstadt Roms hinaus in den Südwesten, ins Viertel Testaccio. Hier wollen wir traditionell römisch essen – ein ehemaliger Mitbewohner (selbst Italiener) hatte uns das Flavio Al Velavevodetto empfohlen. Endlich eine richtige Carbonara!
Wir fressen uns voll, anschliessend gehn wir los in Richtung der nächsten U-Bahn-Station. Unser Weg führt an der Aurelianischen Mauer entlang, die den historischen Kern der Stadt umschliesst. Sie ist das grösste Monument des antiken Rom, erbaut wurde sie Ende des dritten Jahrhunderts. Zum grössten Teil ist sie noch immer vorhanden.
Plötzlich stehen wir vor einer Pyramide.
Diese ist in den Mauerverlauf integriert, gleich neben der Porta San Paolo (einem antiken Stadttor, ursprünglich «Porta Ostiensis») und der Piazzale Ostiense, einer grösseren Strassenkreuzung.
Was hat es mit dieser Pyramide auf sich? Sie ist viel kleiner als die ägyptischen Verwandten, und sie läuft deutlich spitzer zu. Sie sieht ziemlich frisch aus, aber wer würde eine moderne Pyramide in eine alte Mauer hineinbauen?
Später im Hotel recherchieren wir und finden raus: Das ist die Cestius-Pyramide. Sie entstand zwischen 18 und 12 v. Chr. als Grabmal des Gaius Cestius.
Ihre Seitenlänge an der Basis beträgt 29.5 Meter, die Höhe 36.4 Meter. (Zum Vergleich: Die Cheops-Pyramide ist viermal höher und siebenmal breiter.)
Über Cestius weiss man nur wenig, halt das, was die Inschriften im und am Grab berichten. Anscheinend war er ein Volkstribun und Prätor (43 v. Chr., im Jahr vor Caesars Ermordung), also ein Politiker mit hohen Ämtern.
Ausserdem war er Mitglied der Septemviri epulonum, eines Priesterkollegiums mit sieben Mitgliedern. Die organisierten etwa Festmahle an den Spielen. Kein unwichtiger Mann.
Wie gesagt, die Pyramide läuft spitzer zu als die von Gizeh, sie gleicht mehr den Pyramiden in Nubien. Deswegen gibts die Theorie, dass Cestius als Offizier am römischen Feldzug 23 v. Chr. gegen das Reich von Kusch teilgenommen hat, und dass sein Grab daran erinnern soll.
Aber das ist dann schon ziemlich weit spekuliert, und anscheinend muss man nicht extra bis nach Nubien reisen, um spitz zulaufende Pyramiden zu finden – die Ptolemäer* bauten solche im Norden Ägyptens.
*Zur Erläuterung: Die Ptolemäer waren hellenistische Fremdherrscher, die Ägypten seit dem 4. v. Chr. regierten; ihr Stammvater Ptolemaios I. war einer von Alexanders Feldherren. Mit dem Tod von Kleopatra, eigentlich Kleopatra VII., endete diese Dynastie.
Weitere Überlieferungen zu Cestius gibt es nicht. Keine Schriften, keine Monumente jenseits der Pyramide. Als sie archäologisch erschlossen wurde und man erstmals zur Grabkammer vorstiess (im 17. Jahrhundert), stellte man fest, dass die längst geplündert und geleert worden war. Zwar gibt es Fresken (im römischen Stil), die jedoch keine grossen Rückschlüsse zulassen.
Und doch wissen wir mehr über Cestius als über die allermeisten seiner Zeitgenossen. Bloss, weil er sich eine Pyramide bauen liess.
Wieso lässt sich einer eine Pyramide bauen?
Ein Jahr nach dem Suizid von Kleopatra und Antonius 31 v. Chr. machte Octavian, der spätere Augustus, Ägypten zur römischen Provinz. Genauer gesagt: Er nahm das Land als Privatbesitz an sich. Es war die Grundlage seines Reichtums und in der Folge die Grundlage des römischen Kaisertums.
Das hochgradig fruchtbare Land war die Kornkammer der antiken Welt, und mit dem Ertrag aus der Landwirtschaft finanzierten Augustus und Co. ihre Armeen. Was von Bedeutung ist, weil das römische Kaiserreich im Grunde eine Militärdiktatur war.
Der Untergang des weströmischen Reiches hatte unter anderem damit zu tun, dass Ägypten bei der Reichsteilung Ende des vierten Jahrhunderts Konstantinopel zufiel.
Noch einmal zurück in Augustus‘ Zeit. Als Ägypten zur Provinz wurde, entwickelten die Römer eine ausgeprägte Faszination für dessen Kultur. Diese reichte Jahrtausende in die Vergangenheit zurück, hatte gewaltige Bauwerke und Monumente hervorgebracht.
Man muss sich vor Augen führen: Die Pyramiden von Gizeh wurden um 2500 v. Chr. erbaut. Der zeitliche Abstand von denen zur Cestius-Pyramide ist grösser als jener von der Cestius-Pyramide zu unserer Gegenwart. Um ein halbes Jahrtausend.
Was ein richtiger Kaiser war, holte sich in Ägypten Statuen und Obelisken und liess sie mit grossem Aufwand nach Rom transportieren. Noch heute prägen diese das Stadtbild von Rom.
Und ein paar besonders ägypten-affine Römer liessen sich Pyramiden als Gräber bauen. In Rom entstanden mindestens zwei davon, möglicherweise vier. Erhalten geblieben ist nur die von Cestius.
Das liegt zu einem guten Teil daran, dass sie, wie erwähnt, beim Bau von Aurelians Mauer in ebenjenen eingebettet wurde. Sie abzureissen, hätte bloss den Schutzwall geschwächt.
Erwähnt sei aber: Das kurze Mauerstück von der Pyramide zur Porta San Paolo wurde abgerissen, um Platz für eine Autostrasse zu machen.
Papst Alexander VII. gab ums Jahr 1660 Ausgrabungen rund um die Pyramide in Auftrag und liess sie anschliessend restaurieren. Die Inschriften, die wir haben, wurden damals freigelegt. (Und ja, das waren ebenjene Ausgrabungen, bei denen man die leere Grabkammer fand.)
Einige der Löcher in der Fassade stammen anscheinend von Bomben und Gewehrkugeln aus dem Zweiten Weltkrieg.
Eine letzte Renovierung wurde von 2012 bis 2015 vorgenommen. Unkraut wurde entfernt, ebenso der Dreck von Russ und Autoabgasen. Jetzt ist auch klar, weshalb die Pyramide so frisch aussieht.
Das Geld dafür (zwei Millionen Euro) stellte ein gewisser Yuzo Yagi zur Verfügung, ein japanischer Geschäftsmann, dem der Konzern Yagi Tsusho Limited gehört – unter dessen Dach findet man Modefirmen wie den schottischen Regenmantel-Hersteller Mackintosh oder die US-amerikanische Hutmacherei Helen Kaminski.
Regenmäntel und Hüte haben die Cestius-Pyramide für die nächsten Jahrhunderte konserviert.
Von uns aus gesehen auf der anderen Seite der Aurelianischen Mauer liegt der Protestantische Friedhof der Stadt, auch bekannt als Englischer Friedhof.
Im 18. Jahrhundert wurde es für Künstler:innen und Vermögende aus ganz Europa Mode, Italien zu bereisen. Man denke nur an Goethe oder Oscar Wilde.
Das stellte die Italiener vor ein Problem: «Viele von diesen Touristen sind Protestanten. Was machen wir, wenn jemand davon hier stirbt? Wir können sie ja schlecht in unserer guten, geweihten katholischen Erde bestatten!»
Und so wurde in Rom eben ein protestantischer Friedhof eingerichtet.
Dort, in Rufweite der Cestius-Pyramide, liegen Percy Shelley (der Mann von Mary «Frankenstein» Shelley) oder John Keats (Hyperion). Den beiden ist übrigens das Keats-Shelley Memorial House am Fuss der Spanischen Treppe gewidmet.
Als Goethe in Rom war, schrieb er: «Heute war ich bei der Pyramide des Cestius und abends auf dem Palatin, oben auf den Ruinen der Kaiserpaläste, die wie Felsenwände dastehn. Hievon läßt sich nun freilich nichts überliefern! Wahrlich, es gibt hier nichts Kleines, wenn auch wohl hier und da etwas Scheltenswertes und Abgeschmacktes; doch auch ein solches hat teil an der allgemeinen Großheit genommen.» (Goethe, Italienische Reise.)
In den Römischen Elegien schrieb er: «›Dichter! Wohin versteigest du dich?‹ – Vergib mir: der hohe/Kapitolinische Berg ist dir ein zweiter Olymp./Dulde mich, Jupiter, hier, und Hermes führe mich später/Cestius Mal vorbei, leise zum Orkus hinab.»
Graf August von Platen widmete der Pyramide ein eigenes Gedicht, in dem es heisst: «Öder Denkstein, riesig und ernst beschaust du/Trümmer bloß, Grabhügel, den Scherbenberg* dort […] Stolze Prunksucht türmte dich einst, o Grabmal […]»
* Mit dem Scherbenberg ist der Monte Testaccio gemeint, wortwörtlich ein Berg aus antiken Scherben. Er gibt dem Viertel Testaccio seinen Namen.
Pyramiden-Freunde bis in die heutige Zeit
Cestius war nicht der letzte Ägypten-Fan, der den Pharaonen nacheiferte. Die alte Kultur hat die Menschen immer wieder von Neuem fasziniert, etwa anfangs des 19. Jahrhundert nach den Grabungen, die Napoleon während seiner Ägypten-Expedition in Bewegung setzt. Oder nach der Entdeckung von Tutanchamuns Grab 1922.
So kann man heute die Howard-Mausoleum-Pyramide im irischen Arklow besuchen (erbaut 1785).
Oder die die Pyramide von William MacKenzie in Liverpool (1868).
Oder die Pyramide von Stjärnenborg, errichtet von einem gewissen Georg Malte Gustaf August Liewen Stierngranat (um 1960).
Und heute? Kein Geringerer als Nicolas Cage hat sich eine Pyramide auf dem Hauptfriedhof von New Orleans ausgesucht, um dort die ewige Ruhe zu verbringen.
Zürich hat übrigens auch eine Pyramide: Am rechten Ufer des Zürichsee, zwischen Utoquai und Zürichhorn, befindet sich die Privatklinik Pyramide. Das sogenannte Ferrohaus wurde vom Architekten Justus Dahinden 1970 erbaut. Erst letztes Jahr wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Schauen wir mal, ob es in zweitausend Jahren immer noch steht.
Weiterführende Quellen zur Cestius-Pyramide
• Schwarzaufweiss: Cestius-Pyramide
• Piranesi in Rome: Pyramid Tomb of Gaius Cestius
• Wikipedia: Pyramid of Cestius
• Youtube: Augustus‘ Principate: The Institutions of the Early Roman Empire
• Claridge, Amanda: Rome: An Oxford Archaeological Guide. Second Edition. Revised and expanded, Oxford University Press Inc., New York 2010