Genua 2021, Teil 4/4: Berge, Schiffe, Kolumbus und Anarchismus

Hier gehts zu Teil 3.

 
Rigi und Righi

Das Bild oben hab ich von der Righi aus geschossen, einem der Hausberge von Genua. Mit der Seilbahn kommt man relativ schnell hinauf, und die Aussicht ist den Ticketpreis durchaus wert. Es gibt dort auch einen Wanderweg, der an einigen Ruinen entlang führt, Teile eines alten Verteidigungs-Walls. Armada und ich stellen dann allerdings bald fest, dass wir weder die Zeit noch die richtige Ausrüstung für die Wanderung haben, also fahren wir wieder runter. (Das Foto entsteht an der normalen Autostrasse.)

Erst halte ichs für einen amüsanten Zufall, dass der Berg Righi heisst, ähnlich wie die Innerschweizer Rigi, ein Berg, der mir halbwegs vertraut ist.
Aber schau mal einer an: Zwischen der Righi und der Rigi besteht ein direkter Zusammenhang.

Der Obwaldner Franz Josef Bucher (1834–1906) war in seiner Heimat erfolgreich als Hotelier und Bahnenbauer. Ende des 19. Jahrhunderts stiess er mehrere Projekte in Genua an, unter anderem eine Bahn, die vom Largo della Zecca hinauf nach Castellaccio führte. Bucher nannte das Ding Funicolare del Righi (also Rigi-Seilbahn), und seither hat sich der Name Righi für den Hügel eingebürgert.
Das zusätzliche «h» ist übrigens der italienischen Aussprache zu verdanken, Rigi würde sonst «Ritschi» ausgesprochen. (Man denke an Spaghetti.) Die Strecke nennt sich heutzutage Funicolare Zecca–Righi.

Vorschlag für einen Marketing-Slogan: «We put the fun in funicolare!»

 
 
Das Disneyland am Meer

Wie das Foto zeigt, sieht man von der Righi aus auch den Hafen von Genua. Den nehmen wir später aus der Nähe in Augenschein. Und so flanieren wir über den Porto Antico, also den Tourismus-Bereich. Bisher sind wir von Menschenmassen verschont geblieben – wir bewegen uns ausserhalb der Hauptsaison (einige Geschäfte sind bereits für den Winter geschlossen), Corona hat alles im Griff. Am Porto Antico jedoch finden wir ihn, den Massentourismus. Tagsüber legen gigantische Kreuzfahrtschiffe an, schütten ihre Passagiere aus und nehmen sie Abends wieder mit.

Es sind bleiche, eher schwabbelige Menschen mit kurzen Hosen, Sonnenbrillen und Fischerhüten. Umringt werden sie von schwarzen Strassenverkäufern, die in T-Shirts und Jeans stecken, die Früchte, Getränke, Schmuck verkaufen. Ein Sinnbild gesellschaftlicher Verwerfungen.

Armada und ich sind am schlechtesten ausgerüstet für das Wetter: Die Sonne brennt, Schatten gibt es kaum. Alles Beton, keine Palmen, neben der Promenade dröhnt eine der grossen Verkehrsachsen der Stadt. Immerhin scheint es so, dass die Strasse die Kreuzfahrer davon abhält, in die Altstadt hinüberzuströmen.


Noch ein Blick auf den Hafen.

In seiner heutigen Form wurde der Porto Antico 1992 erbaut, zum 500-Jahre-Jubiläum von Amerikas Entdeckung durch Kolumbus (auf ihn kommen wir zurück). Damals erst begann die touristische Auswertung der Stadt, die in mancher Hinsicht bis heute in den Kinderschuhen steckt – wie uns etwa Spyro während seiner Tour erklärte, wurden die Hostels, für die er arbeitet, im Lauf der 2000er eröffnet. Es waren die ersten in der Altstadt.

Jedenfalls, von 1992 stammt nicht zuletzt die Hauptattraktion des Hafens, das Acquario di Genova. Es ist eins der grössten in Europa. Das Aquarium selbst behauptet sogar, das allergrösste zu sein, doch andere Listen nennen das L’Oceanogràfic in Spanien oder das Moskvarium in Russland.
Wie dem auch sein, in Genua gibts Haie und Delfine, Piranhas, Nilkrokodile, Pinguine und so weiter. Klingt spektakulär. Und das Aquarium wurde uns von mehreren Leuten empfohlen. Die Warteschlange ist allerdings derart lang, dass wir es sein lassen. Es ist einfach zu heiss, um sich eine Stunde lang draussen anzustellen.

Menschenmassen, Warteschlangen: Der Porto Antico ist ein Disneyland. Wortwörtlich: Wir sehen Micky und Minni. Sie knüpfen Ballontiere für Kinder, lassen sich abfotografieren. Die Menschen in den Kostümen schmoren im eigenen Saft.

Wir stossen auf den lebensgrossen Nachbau einer spanischen Galeone. Und gehen daran vorbei. Erst zu Hause, als ich recherchiere, wird mir bewusst: Das ist die Neptune aus Roman Polanskis Film Pirates (1986)! Der Film kostete seinerzeit vierzig Millionen und spielte nur etwas mehr als sechs ein. Hätte es bei mir geschaltet, dass das dieses Schiff ist, hätt ich darauf bestanden, an Bord zu gehen.

 
 
Entdecker und Sklavenhändler


Links die mittelalterliche Porta Soprana, rechts das Kolumbus-Haus (mit Flaggen).

Christoph Kolumbus kam 1451 in der Republik Genua zur Welt. Die Details sind umstritten, es scheint aber relativ klar zu sein, dass er von 1455 bis 1470 in der Stadt selbst lebte. Das Haus seiner Familie wurde mutmasslich Ende des 17. Jahrhunderts zerstört, im 19. Jahrhundert wurde eine Rekonstruktion errichtet. Dieser Nachbau wurde später zu einem Grossteil abgerissen; die zwei Stockwerke, die übrig blieben, beherbergen ein Museum.

Für einen Besuch fehlte uns die Zeit. Spannend wärs schon gewesen zu sehen, wie das Museum mit dem Vermächtnis von Kolumbus umgeht. Ein Entdecker, der den Lauf der Geschichte geändert hat, damit aber auch das Zeitalter des europäischen Kolonialismus und insbesondere den atlantischen Sklavenhandel einläutete.

Italien hält sicher eher zurück mit einer kritischen Aufarbeitung, schreibt der Politwissenschaftler Claus Leggewie. «Wie kann man […] die gewissermaßen antizyklische Retrofiktion in Italien einordnen, die zwischen überwiegender Nichtbeachtung und Kolumbus-Verherrlichung durch die extreme Rechte schwankt?»

 
 
Farbanschläge und Bombardements


Ein Wandgemälde in der Nähe des Lsoa Buridda, einem autonomen Zentrum in Genua. Das Porträt zeigt Carlo Giuliani.

Leggewie weist auch darauf hin, dass Genua die Heimatstadt von Kolumbus ist, also der Symbolfigur des Kolonialismus, gleichzeitig aber auch der Ort, wo einige der grössten Proteste gegen die Globalisierung stattfanden.

Der G8-Gipfel in Genua liegt zwanzig Jahre zurück. Damals im Juli 2001 kamen George W. Bush, Tony Blair, Wladimir Putin und Co. in der Stadt zusammen; Gastgeber war Silvio Berlusconi. Hunderttausende gingen dagegen auf die Strasse.
Der italienische Staat reagierte mit brutaler Härte. Am 20. Juli wurde dem 23-jährigen Studenten Carlo Giuliani in den Kopf geschossen; ein Märtyrer der Bewegung (an der Piazza Gaetano Alimonda, wo er starb, steht heute ein Gedenkstein).
In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli stürmten Carabinieri die Diaz-Schule, verprügelten und verhafteten friedlich schlafende Demonstrant:innen, folterten sie später in Gewahrsam weiter. Der Skandal ging in den Medien unter, nachdem sich ein paar Monate später die 9/11-Anschläge ereignet hatten.

Hier hält Lia Klaeber, die dabei war, für das Ajour Magazin Rückschau, hier hat Annalisa Camilli für die Woz zwei Aktivistinnen von damals befragt. Und hier gibts eine Einordnung durch Daniél Kretschmar für die Taz.

Zurück in der Gegenwart. In Genua organisierten linke Gruppen um den 20. Juli Demos und Umzüge, um an die Proteste von 2001 zu erinnern. In der öffentlichen Berichterstattung wurde das weitgehend ignoriert, denn die Proteste gegen den Green Pass, also die Zertifikatspflicht, mobilisierten mehr Menschen und generierten mehr Aufmerksamkeit.

Während wir in Genua sind, bleibt die Stadt still, abgesehen von der einen Green-Pass-Demo, die wir sehen. Die autonomen Zentren sind gerade alle zu (nach den ganzen Veranstaltungen im Sommer herrscht Betriebspause). Wir sehen rote Farbkleckse auf der Fassade eines Regierungsebäudes (es gehört dem Istituto Nazionale della Previdenza Sociale, also der gesetzlichen Sozialversicherung). Diese Kleckse sowie zahlreiche Graffiti sind das deutlichste Zeichen der Linken.


Farbanschlag auf den Sitz der Sozialversicherung.

Als Zentrum des Handels und der Stahlindustrie ist Genua traditionell eine Hochburg von Gewerkschaften und linken Bewegungen. Ist die Stadt immer noch, auch wenn die Stahlindustrie seit den Neunzigern im Niedergang begriffen ist. Sehr erleuchtend ist folgender Artikel der Woz: Erst Focaccia, dann Klassenkampf. Thema: ein Besuch beim Hafenarbeiterkollektiv Calp (Collettivo Autonomo Lavoratori Portuali), der einen Einblick in den Arbeiterwiderstand in Genua gibt. Da muss ich dann auch lernen, dass man die Proteste gegen den Green Pass nicht einfach als Querdenker-Sache abstempeln kann:

Besonders stört die Leute das in Italien «Green Pass» genannte Covid-Zertifikat. Es beschränkt nicht bloss den Zutritt zu Bars oder Theater auf Geimpfte, Genesene oder Getestete, sondern soll neu auch den Zugang zum Arbeitsplatz regeln. «Der Staat trägt die Verantwortung dafür, dass es in den Spitälern zu wenige Betten gibt, also müsste er ehrlicherweise eine Impfpflicht einführen», sagt Nivoi. Mit der Zertifikatspflicht und den teuren Coronatests werde die Verantwortung aber aufs Individuum abgewälzt.
[…]
Und auch die Streiks gegen den «Green Pass» beschäftigen die Gruppe weiterhin. Immerhin haben sie erreicht, dass die Unternehmen im Hafen ihren Arbeitern die Coronatests zahlen müssen.

Im Artikel geht es unter anderem auch darum, dass Calp Waffenlieferungen in Kriegsgebiete blockiert. Grad in Genua ergibt das Sinn – wurde die Stadt doch selbst mehrmals unter Beschuss genommen. So wurde das originale Kolumbus-Haus wohl zerstört, als die Stadt 1684 im französisch-spanischen Reunionskrieg bombardiert wurde. Im Februar 1941 wiederum wurde Genua im Rahmen der Operation Grog unter Beschuss genommen.

Damals im Zweiten Weltkrieg traf eine Granate versehentlich die Kathedrale San Lorenzo – explodierte jedoch nicht. Ein Wunder! Noch heute steht ein Replikat der Bombe in der Kirche. Spyro zeigte sie uns während seiner Tour, und er erzählte uns, ursprünglich sei die Granate – Ironie der Geschichte – in einer der Waffenfabriken Genuas gebaut worden. Während meiner Recherche hab ich keine Bestätigung dafür gefunden, aber eine schöne Pointe wär das schon.


Graffito in der Altstadt.

 
Das war der letzte Teil des Genua-Berichts. Hier gehts zurück zum ersten Teil.

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