Kunst Museum Winterthur: Die Zärtlichkeit des Gilbs

Diese Woche war ich im Kunst Museum Winterthur (offizielle Schreibweise). Zu den Ausstellungen sage ich weiter unten ein paar Worte, aber zuerst will ich über etwas sprechen, das mich mehr faszinierte als alle Gemälde: die Wände des Kunstmuseums.
Genauer gesagt, die Wände des Standorts Beim Stadthaus – seit vergangenem Jahr hat das Museum ja zwei weitere Standorte: die Villa Flora sowie das ehemalige Museum Oskar Reinhart, jetzt Reinhart am Stadtgarten.

Der Standort Beim Stadthaus ist das ursprüngliche Museumsgebäude, es wurde 1916 eröffnet. Es gibt auch einen Erweiterungsbau von 1995, mir gehts aber um die Wände im alten Teil. Diese sind mit einer Leinen-Tapete bezogen, an die die Bilder und die Erklärungstäfelchen befestigt sind. Im Grunde ein cleveres System. Nur, dass die Tapete nach hundert Jahren (ich nehme an, dass sie noch aus der Anfangszeit stammt) völlig vergilbt ist, ja teils sogar verschimmelt, so wie es aussieht.
Die Tapete, die einst weiss gewesen sein mag, ist weitgehend von einem gelblich-gräulichen Beige. An vielen Stellen weist sie dunkle, rötlich bis graue Flecken auf, die sich mitunter zu ganzen Mustern verbinden. Vereinzelt kann man die Spuren von Erklärungstäfelchen entdecken, die entfernt wurden. Man stelle sich das vor: Da hängen Gemälde von Van Gogh, Picasso oder Paul Klee an vergammelten Wänden.

Der Ekel hält aber nur kurz an, denn schnell fällt mir die ästhetische Qualität dieser Vergilbung auf. Gerade die Flecken bilden stellenweise filigrane. Bei einigen Verfärbungen muss man genau hinsehen, um sie wahrzunehmen. Ein zartes Memento mori.
Kommt hinzu, dass die Sinnlichkeit dieser Vergilbung über das bloss Visuelle hinausgeht, denn die Tapete verbreitet einen deutlich wahrnehmbaren Geruch. Dieser hat etwas Stickiges und Modriges – was wohl auch damit zusammenhängt, dass die meisten Räume fensterlos sind. Aber der Geruch hat auch etwas Gemütliches, Vertrautes. Als würde man einen geliebten alten Onkel in seiner Stube besuchen, die seit vierzig Jahren genau gleich eingerichtet ist.
Ich kann mir vorstellen, dass diese Tapete in nicht allzu ferner Zukunft entfernt oder zumindest gereinigt wird, denn für ein Kunstmuseum ist ein derartiger Zustand doch ein wenig peinlich. Aber damit ginge auch etwas Schönes verloren – in meinem Leben war ich in einigen alten, vernachlässigten Museen, und diese hatten doch stets einen liebenswerten Charme an sich.

Wie dem auch sei: Ich fotografiere die schönsten Verfärbungen ab.

 
 
Und sonst? Die Sammlung Beim Stadthaus enthält einige tolle Gemälde, wie Van Goghs Porträt von Joseph Roulin (1888), das den Postmann vor einem gelben Hintergrund zeigt. Besonders ergriffen haben mich Max Ernst‘ Schuppenblumen (1928), ohne dass ich recht sagen könnte, wieso. Von Meret Oppenheim stammt Idol (1961): Aus einem Tischbein, etwas Gips und einem Baumschwamm machte sie eine extrem lustige Büste.

Im erwähnten Erweiterungsbau findet die Wechselausstellung Frozen Gesture (noch bis 18. August) statt, eine Ausstellung über „die Handbewegung der Künstlerinnen und Künstler, die mit dem Pinsel über die Leinwand fahren“. Ein Beispiel ist Roy Liechensteins Yellow Brushstroke (1965), das einfach einen grossen Pinselstrich zeigt. Bei diesem Thema unvermeidbar ist auch Gerhard Richter, der gleich mit mehreren Werken vertreten ist, auf denen er auf seine typische Art mit dem Farbauftrag per Rakel und Spachtel arbeitet.
Besonders gefallen mir die beiden grossformatigen Gemälde Wall Mall (2008) und Die leere Mitte (2018) von Franz Ackermann: Kaleidoskopartige Wimmelbilder, die aus vage erkennbaren architektonischen Elementen und knalligen Farben bestehen – die Farbgebung erinnert mich stark an das Schaffen von Keiichi Tanaami.
Für die Ausstellung malte Karin Sander eine Reihe von fluoreszierenden Pinselstrichen, die sie auf Wänden oder Fenstern anbrachte. Fotografiert man jene an den Fenstern, ergibt das zusammen mit der Aussicht einen bemerkenswerten Effekt.

Karin Sander: Pinselstrich, fluoreszierend grün, 2019

Konstruktives Kabinett (noch bis 2. Februar 2020) präsentiert Werke von Max Bill und den Zürcher Konkreten. So wichtig sie kunstgeschichtlich auch sind, mich persönlich lässt ihr Schaffen kalt – die Arroganz eines Nachgeborenen. Am ehesten noch sprechen mich die Bilder des Niederländers Piet Mondrian an. Der gehört nun nicht gerade zu den Zürchern, aber natürlich hatte er einen starken Einfluss auf alle Konkrete Kunst.

Lassen wir Beim Stadthaus hinter uns, gehen wir zu Reinhart am Stadtgarten: Bei Daumier – Pettibon (noch bis 4. August) handelt es sich um eine Gegenüberstellung des Schaffens von Honoré Daumier (1808–1879) und Raymond Pettibon (*1957). Den alten Franzosen und den zeitgenössischen Amerikaner verbindet die politische Auseinandersetzung durchs Zeichnen. Daumier war der wichtigste politische Karikaturist im Frankreich des 19. Jahrhunderts, und er bringt in der Tat seine Themen sehr geistreich auf den Punkt. Die Figuren sind grandios überzeichnet, die Kritik an den Auswüchsen der Zeit heftig.
Pettibon wiederum produziert weniger klassische Karikaturen, als dass er eine Art gezeichnete Collage betreibt: Da zeichnet er zum Beispiel einen Atompilz und schreibt Zitate von Albert Einstein in diesen hinein. Am Rande sei erwähnt, dass Pettibon der erste Bassist der Band Black Flag war, deren Logo und viele der frühen Plattencover gestaltete.

Ein Highlight in der Sammlung von Reinhart am Stadtgarten ist Die Fussoperation (1628) von Rembrandt – es ist noch nicht lange her, dass das kleine Gemälde im Rahmen einer grossen Untersuchung dem Meister selbst zugeschrieben werden konnte.
Zwei, drei Räume weiter findet man das Bild Die Beinoperation (1641) von Hendrik Martensz. Sorgh. Wie die Gemäldetitel erahnen lassen, zeigen beide Bilder ein sehr ähnliches Motiv: Ein Patient lässt sich von einem Quacksalber operieren. Das lädt zum Vergleich ein: Sorgh malt die ganze Praxis, Rembrandt rückt die beiden Figuren ins Zentrum und deutet den umliegenden Raum nur an. Dieser Unterschied mag einfach an den verschiedenen Bildformaten liegen (das von Sorgh ist um einiges grösser), man sieht aber sofort, dass Rembrandts Figuren ungleich subtiler gemalt sind, nicht zuletzt im Spiel von Licht und Schatten. Und näher am Leben. Bei Rembrandt spürt man den Schmerz des Patienten, man meint, sein Zucken zu erkennen — bei Sorgh wirkt der Operierte nimmt eine melodramatische Position ein, er hat etwas Steifes und Unnatürliches.

Die Villa Flora ist zurzeit wegen Umbau geschlossen.

Kunst Museum Winterthur
Daumier — Pettibon (2.3.-4.8.2019)
Frozen Gesture (18.5.–18.8.2019)
Konstruktives Kabinett (13.4.2019–2.2.2020)
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