Lasst die Alten sterben
Regie & Drehbuch: Juri Steinhart
Schweiz 2017; 92 min.
Special Screening
Die Gentrifizierung bin ich
Regie & Drehbuch: Thomas Haemmerli
Schweiz 2017; 98 min.
Internationaler Dokumentarfilm / Wettbewerb
Zwei Filme über die linksanarchistische Szene im weitesten Sinne: Die Komödie Lasst die Alten sterben und der Dokumentarfilm Die Gentrifizierung bin ich. Ob die was taugen?
Lasst die Alten sterben erzählt von Kevin (Max Hubacher), dem verwöhnten Goff eines reichen Linksliberalen (Christoph Gaugler). Kevin ist ein Teenager (sein Darsteller Hubacher allerdings 24 Jahre alt, was dann doch ein bisschen irritiert), er trainiert seine Muskeln, er hängt seine gesamte Freizeit auf Sozialen Medien herum, er geht auf Partys und trinkt auf denselben so viel, dass er schlussendlich kotzt.
Irgenwann kommt Kevin auf die Idee, sein Ritalin abzusetzen. Daraufhin triezt ihn ein imaginärer Punk. Weswegen Kevin zuhause den Fernseher sowie sein Handy kaputtschlägt und seinen besten Kumpel davon überzeugt, eine Hausbesetzer-WG zu gründen. (Weshalb der beste Kumpel mirnichtsdirnichts mitmacht? Keine Ahnung.)
Die beiden suchen daraufhin Mitbewohner, was eine Art WG-Casting-Show nach sich zieht, die wohl von Danny Boyles Kinofilm-Debüt Shallow Grave inspiriert ist. Der Berner Regisseur Juri Steinhart bedient sich auch bei Boyles geringfügig bekannterem Nachfolgefilm Trainspotting, sowie bei David Finchers Fight Club, aber die Fallhöhe von Trainspotting und Fight Club zu Lasst die Alten sterben ist dann doch ein bisschen sehr hoch.
Man lebt in der Hausbesetzer-WG so vor sich hin, streitet sich mal über einen Ämtliplan (Kevin ist das zu wenig punk, die anderen wollen nicht im Dreck leben). Dann stösst Kevins Vater hinzu, weil sich dessen Frau (Kevins Mutter) einen anderen angelacht hat. Der Mann war früher selbst Hausbesetzer und ist mehr punk als der Sohn, was den wiederum auf die Palme bringt. Und so weiter.
Das Verhalten der Figuren ist recht vage motiviert, die Handlung mäandriert eher ziellos vor sich hin und ich hab mich immer wieder gefragt, was der Film eigentlich will. Da steckt kein Drive dahinter, kein Ziel, kein Anliegen. Es geht irgendwie um die vom Smartphone beherrschte Jugendkultur (die YOLOs), um das linksbürgerliche Milieu der Alt-68er, um die anarchistische Szene — aber der Berner Regisseur Steinhart (Jahrgang ’80) kommt nicht über Allgemeinplätze und Klischees hinaus. Keine Sekunde lang glaub ich ihm, dass er mit Jugendlichen gesprochen hat, dass er früher selbst mal Punk war oder jemals in der Reitschule vorbeigeschaut hat. Es fehlt an der satirischen Schärfe.
Man sollte alle Smartphones zerschlagen? Wie überaus tiefsinnig!
Die WG-Mitglieder entscheiden sich, gesellschaftliche Freiheit könne man nur nackt ausleben? Ein Schenkelklopfer vor dem Herrn!
Lasst die Alten sterben ist ein Film über Punks, wie ihn nur Oberbünzlis machen können.
Um einiges glaubwürdiger ist dagegen Die Gentrifizierung bin ich. Regisseur Thomas Haemmerli ist eine relativ bekannte Figur, Filmemacher und Journalist, hat den Messie-Dokumentarfilm Sieben Mulden und eine Leiche gedreht, taucht immer mal wieder im Fernsehen auf als Präsident der Gesellschaft offene & moderne Schweiz (GomS).
Ausgehend von der lachhaften Debatte um den sogenannten Dichtestress, die konservative Politiker in der Schweiz vor ein paar Jahren vom Zaun brachen, geht Haemmerli der helvetischen Baupolitik nach. Weist hin auf den Unsinn der helvetischen Zersiedelung, den Kult um das Einfamilienhaus mit Garten, die kindische Angst vor dem Wolkenkratzer. Wie viel anders die Leute das in einer Metropole wie dem brasilianischen São Paulo sehen.
Und Haemmerli merkt: Die fremdenfeindliche Ecopop-Initiative wäre nicht möglich gewesen, hätten umweltbewusste Linke in den 70ern nicht den Boden dafür bereitet — damals, als Haemmerli selbst Teil der linken Bewegung und Hausbesetzerszene war. Heute ist er ein reicher Linksbürger, der fleissig an der Gentrifizierung mitarbeitet und gelernt hat, den Reiz brutalistischer Architektur zu schätzen.
Man lernt als Zuschauer ebenfalls, nämlich ein bisschen was über politische Zusammenhänge und Haemmerlis provokante Art ist erfrischend, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Denn auch wenn es vorgeblich um Dichtestress und Gentrifizierung geht, eigentlich interessiert sich Thomas Haemmerli nur für ein Thema: Thomas Haemmerli. Seine Person ist das Zentrum, um das sich dieser Film und überhaupt das gesamte Universum dreht.
Diese inhaltliche Penetranz zeigt sich dann auch im Stil: Haemmerli setzt auf schnelle Schnitte und schrille Geräusche; jede These haut er dem Publikum mit dem Zaunpfahl um die Ohren. Im Gegensatz zu Juri Steinhart weiss Haemmerli genau, was er sagen will, und er sagt es so laut, wie er nur kann. Schon Sieben Mulden und eine Leiche ging in diese Richtung, und man kriegt das Gefühl, diesmal sei mit Haemmerli endgültig der innere hyperaktive Vierjährige durchgegangen. IT’S THE MOTHERFUCKING HAEMMERLI SHOW, BITCHES! Selten ist mir ein Film derart auf die Nerven gegangen.